Zum Pflegen verdammt – Seite 1
Einen Menschen zu pflegen, den man seit Langem kennt und liebt, ist schwer genug. Wie schwer mag das sein, wenn der kranke, hilfsbedürftige Mensch durchaus nicht geliebt wird? Dies ist die Geschichte einer Frau, die ein Versprechen an den Rand ihrer Kräfte bringt.
Ich halte ein Foto in der Hand, es zeigt ein älteres Ehepaar. Beide haben sich fein gemacht, Ruth, in frischem Blond, hat ihre Spitzenbluse mit einer auffallenden Jadekette geschmückt. Martin, im Anzug, mit silberner Krawatte und Schlipsnadel, hat den Arm um Ruth gelegt.
Vor vier Jahren ist er gestorben.
Sie lebt, schwer dement. Ein Pflegefall.
Ein kühler Tag im November. Resthöfe verstreut in flacher norddeutscher Landschaft, der Blick geht weit nach Süden, hin zu einer kleinen Anhöhe. An der Tür eines umgebauten Bauernhauses wartet Charlotte auf die Besucherin. Bald wird sie 68 Jahre alt; sportliche Figur, lockerer Sweater in Rosa, der Kurzhaarschnitt mündet in einer frechen Tolle über der Stirn.
Als Kinder waren wir unzertrennlich, aufgewachsen auf einem Gut in Westfalen, damals tobten wir jeden Tag über den Hof und durch die Ställe; heute sehen wir uns eher selten. Charlotte hat wenig Zeit für spontane Verabredungen. Der Tageslauf wird bestimmt durch ihre Aufgabe, die Pflege. Schnell steuert sie mich im Hausflur zur Treppe. Oben, im geräumigen ersten Stock, empfängt uns der Labrador. Warme Farben, überall selbstverlegtes Parkett, ein langer Esstisch. Hier haben Charlotte und ihr Mann drei Kinder großgezogen. Längst aus dem Haus.
Unten, im Erdgeschoss, wohnt sie.
Die Schwiegermutter, die unfreundliche. Die von Anfang an versucht hatte, Charlotte ihrem Sohn auszureden. Die nicht zur Hochzeit des Paars erscheinen wollte und später Charlottes Kinder ignorierte.
Charlotte will erzählen, wie es ist, 24 Stunden täglich für einen Menschen zu sorgen, den man nicht liebt. Und von dem man sich immer schon abgelehnt fühlte. Charlotte heißt in Wirklichkeit anders, ihr Name ist wie alle anderen Namen in dieser Geschichte geändert. Sie scheut sich, Familieninterna und heikle moralische Fragen öffentlich auszubreiten. Alle wahren Identitäten sind der Redaktion bekannt.
Die Mutter von Charlottes Mann Robert ist 93 Jahre alt. Erste Anzeichen einer Demenz zeigten sich vor etwa sieben Jahren. Ruths Erinnerungen wurden löchrig. Damals lebte Martin noch, Ruths Ehemann. Lange hatte er seiner Frau vieles abgenommen im Haushalt, hatte eingekauft, Kartoffeln geschält, gekocht. Bis ihn eine Krebserkrankung einholte.
Charlotte erzählt: "Als mein Schwiegervater im Sterben lag, hat mein Mann ihm gesagt: Wir kümmern uns um die Mama, sie kann immer hierbleiben, bis zum Ende …": In ein Pflegeheim abgeschoben zu werden, das sollte der Mutter auf jeden Fall erspart bleiben.
"Ich dachte, ich wuppe das …"
Auch Charlotte stellte sich damals dieser Aufgabe. Es sei für sie einfach nicht infrage gekommen, einen nahen Angehörigen der Pflege von Fremden zu überlassen. Ihrer Familie waren diese Werte immer wichtig, auch christliche Selbstverständlichkeit. Heute sagt sie: "Martin wusste nicht, wie es kommt. Wenn er sähe, was jetzt hier läuft, würde er sagen: Bringt sie fort."
Aber das fällt Robert sehr schwer. Als Sohn fühlt er sich an das Versprechen gebunden, ein für alle Mal – auch wenn er die Pflege, so ganz praktisch, nicht übernehmen könne, als Mann.
Und Charlotte? "Ich dachte, ich wuppe das …" Wie schnell sie an ihre Grenzen kommen würde, hatte sie nicht erwartet.
Immerhin, sie fühlte sich gut vorbereitet auf diese Aufgabe. Als ausgebildete Krankenschwester hatte sie viele Jahre lang Erfahrungen mit Patienten gesammelt, erst auf einer Intensivstation für Dialysepatienten, später auf einer Frauenstation und bei Nachtwachen. Besonders diesen Dienst fand sie erfüllend. Sie hatte Zeit für die Patienten, konnte sich an deren Bett setzen und zuhören, wenn sie spürte, es gab Bedarf nach einem Gespräch jenseits der alltäglichen Hetze.
Nach der Geburt der Kinder pausierte sie, kehrte mit 50 Jahren zurück in den Beruf. Weil die Arbeit in einer Klinik sich verändert hatte, entschied Charlotte sich, in die ambulante Pflege zu wechseln. Dort traf sie zum ersten Mal auf demente Patienten. "Wenn deren Angehörigen stöhnten über die Belastung, dachte ich: Was beschweren die sich? So schlimm ist das doch nicht. Ich habe das völlig unterschätzt."
Tatsächlich lief die häusliche Pflege von Ruth zunächst relativ überschaubar an. Charlotte übernahm das Einkaufen, sie putzte die Wohnung, bereitete der Schwiegermutter die Mahlzeiten. Sie ordnete die Tabletten ein, überwachte deren Einnahme und organisierte die Arztbesuche.
Doch dann baute Ruth schnell ab, und zu den ersten Zeichen von Demenz traten heftige Halluzinationen. Sie sah Mäuse, die über den Tisch flitzen, schlug mit der Hand nach ihnen. Dann tauchten Tiere mit grünen Schwänzen auf. Sie rief andere Menschen an und erklärte, ihr Sohn habe sie aus der Wohnung geworfen. Und schließlich, daran erinnert sich Charlotte kopfschüttelnd, erklärte Ruth, oben auf dem Küchenschrank säße ein weißer Löwe, der eine Hutschachtel auffräße. Wir müssen lachen; für die Kranke muss es quälend gewesen sein.
Wer einen dementen Menschen begleitet, erlebt die Stadien der Krankheit. Wie eine Fotografie, die allmählich verblasst, verlieren sich persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten und vertraute Zeichen. Da ist der Ehemann, der die Frau, mit der er seit 50 Jahren verheiratet ist, fragt: "Haben wir uns mal geduzt?" Da ist die Sechzigjährige, die auf der Straße Fremde anspricht und erklärt, ihr Haus stehe in Flammen. Die Krankheit ist unberechenbar. Erst wird das Band der Vertrautheit löchrig, dann mürbe, und irgendwann reißt es völlig.
Physisch ist ein dementer Mensch anwesend, aber völlig überfordert damit, den eigenen Alltag zu organisieren. Einfache Techniken, für Gesunde selbstverständlich, werden nicht mehr beherrscht.
Für die pflegende Begleitung bedeutet das Zuständigkeit, ununterbrochen, sieben Tage in der Woche. Von A wie Arztbesuch bis Z wie Zehennägel. Kein Bereich der Körperpflege und der individuellen Existenz als Bürger ist ausgespart.
Der Preis für ihr Pflichtbewusstsein
Ruth trägt seit langem Windeln, und die müssen gewechselt werden. "Manchmal war sie sehr böse zu mir", berichtet Charlotte, ihre Stimme wird leise dabei. "Ich habe dann einmal gesagt: Du hast mich noch nie leiden können, und jetzt muss ich dich sauber machen. Da zuckte sie einfach so mit den Schultern …" Als wollte sie sagen: tja, dein Pech.
Bald reagierte Charlottes Körper auf die Überforderung: Bluthochdruck, Schlaflosigkeit, tiefe Erschöpfung, es ist der Preis für ihr Pflichtbewusstsein. Sie konnte nicht mehr durchschlafen, ständig glaubte sie, Ruth in der Wohnung im Erdgeschoss rufen oder wandern zu hören.
Die Schwägerin riet ihr: "Mach abends unten die Wohnungstür zu, schließ Ruth ein, und morgen früh guckst du wieder nach ihr." Kein Ausweg für Charlotte. "Ich kann mit mir nicht vereinbaren, nicht hinzugehen, und muss mehrmals in der Nacht nach ihr schauen."
Es ist nicht nur das Pflichtgefühl, das sie antreibt. Auch eine Erwartungshaltung, die sie erfüllen wollte, und schließlich sogar Liebe zu ihrem Ehemann, der sich an sein Versprechen gebunden fühlt.
Als Charlotte wieder einmal spürte, wie ausgelaugt sie war, gab es ein Gespräch mit Robert, das ihr in Erinnerung geblieben ist.
Sie: Du willst einfach nicht sehen, wie schlecht es mir geht. Ich kann bald nicht mehr.
Er: Aber ich mache doch auch mit, ich gehe auch runter und gucke nach ihr …
Sie: Wenig genug. Dann muss ich also so lange weitermachen, bis ich umfalle – was machst du denn dann?
Er: Dann kommt sie ins Heim.
Sie: Das ist so ein Punkt, wo ich aufgebe. Wo ich denke: Deine Mutter steht über mir.
Er: Nein, nein, so ist das nicht. Ich kann sie einfach schlecht weggeben. Wenn, dann gebe ich sie deinetwegen fort.
Etwa 4,2 Millionen Menschen werden derzeit zu Hause versorgt, das entspricht etwa 84 Prozent aller Pflegebedürftigen. In den meisten Fällen sind es Familienangehörige, die diese Aufgabe übernehmen, und dabei – wer würde es anders erwarten – in der Mehrzahl Frauen.
Pflegende sagen, die Belastung mache sie psychisch krank, das ist das Ergebnis einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos aus diesem Jahr. Sie leiden unter Depressionen, auch unter Angststörungen. Sie fühlen sich überfordert, von der Verantwortung, dem Kampf mit der Pflegebürokratie, der mangelnden Unterstützung durch Außenstehende – und finden doch keinen Ausweg. Dass sie selbst am Ende ihrer Kräfte sei, habe sie zu spät gemerkt, sagt auch Charlotte.
Wie im Hamsterrad
Es gibt Beratungen zur Entlastung der Pflegenden, doch das Angebot ist unübersichtlich, dazu in jedem Bundesland anders organisiert, und die entsprechenden Stellen zu finden, gestaltet sich kompliziert. Experten fordern seit Langem, eine zentrale Telefonnummer einzurichten, vergleichbar mit der 116117, die hilft, eine ortsnahe Beratungsstelle zu finden.
Die Daueraufgabe der Pflege wirkt sich auf soziale Kontakte aus; weil die Zeit fehlt, sieht man seltener Freunde oder unternimmt etwas, das ablenkt, Freude macht. Charlotte ist traurig, den Geburtstag der Enkel zu verpassen, weil sie pünktlich zu Hause sein muss, um Ruth die Medikamente zu verabreichen. Wie gern würde sie häufiger ihre eigene Mutter besuchen, die topfit mit 92 Jahren allein lebt.
Weitermachen, immer weiter, einfach funktionieren, wie im Hamsterrad. Selbstfürsorge fällt Pflegenden schwer; immer geht der Kranke, die Kranke vor. Manchmal bekommt man zu hören: Klar, ihr seid angebunden; aber das ist man ja mit kleinen Kindern auch, 24 Stunden am Tag.
Das ist richtig, auch das ist bekanntlich anstrengend, aber sehr anders: Kinder entwickeln sich, erobern die Welt, mit unserer Hilfe, eignen sich immer mehr Fertigkeiten an. Mit den Kranken geht es immer nur in eine Richtung. Hin zu weniger, zu schmerzhafter, zu noch abhängiger.
Irgendwann haben Charlottes Kinder festgestellt: So geht es nicht weiter, wir verlieren unsere Mama. Sie nahmen sich, einzeln, aber koordiniert, den Vater vor. Sie führten ihm vor Augen, dass das Versprechen, das er in bester Absicht gegeben hat, ein unverhältnismäßig hohes Opfer fordert, seine Frau schwer krank macht und die komplette Familie auseinanderreißt. Das blieb nicht ohne Wirkung.
Jetzt übernimmt der Pflegedienst auch die abendliche Versorgung.
Schon das erleichtert Charlotte, sie geht alles gelassener an: "Ich lasse es jetzt nicht mehr so nah an mich heran."
Einmal in der Woche bleibt Ruth für einige Stunden in einer Einrichtung der Tagespflege. Diesen Platz zu erobern, war ein Kampf. Auf der Warteliste der infrage kommenden Einrichtung (auf dem Land sind es nicht viele) standen 80 Interessenten. Wer nicht selbst pflegt, macht sich keine Vorstellung davon, wie dankbar man schon für eine solche minimale, stundenweise Entlastung ist.
Und zu Beginn des neuen Jahres, so steht es nun fest, wird Ruth in ein Pflegeheim ziehen. Wird sie überhaupt registrieren, nicht mehr in der gewohnten Umgebung zu leben? Das weiß niemand.
Nicht ausgeschlossen, dass ihr Lebenskreis sich dort bald schließt. Auch das hat Charlotte im Blick und will sich dann keine Vorwürfe von anderer Seite gefallen lassen in der Art: Diese kurze Zeit hättest du zu Hause doch auch noch geschafft.
Nein, hätte sie eben nicht.
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